Forsythien und der Klimawandel: Frühlingsbeginn in Hamburg während der letzten 30 Jahre immer mehr verspätet

Von Sebastian Lüning und Josef Kowatsch

Nach einem langen Winter freuen sich alle auf den Frühling. Endlich mal wieder im T-Shirt in der Sonne sitzen, genüsslich auf der Terrasse einen Kaffee schlürfen. Einfach schön. Allerdings versuchen uns Bedenkenträger das Vergnügen madig zu machen. Der Frühling käme immer früher. Schuld habe der böse Klimawandel. Durch unser frevelhaftes Tun hätten wir jetzt sogar schon die Jahreszeiten verschoben. Bald würde uns zur Strafe der Himmel auf den Kopf fallen. Pfui Teufel. Nun ist es aber mit dem Frühling gar nicht so einfach. Wikipedia weiß:

Der Frühlingsanfang oder Frühlingsbeginn, also der Anfang der Jahreszeit Frühling, kann entweder astronomisch, meteorologisch oder phänologisch (nach dem Entwicklungsstand der Pflanzen) bestimmt werden.

Astronomisch ist die Sachlage ziemlich klar. Hier gibt es nur Änderungen im 10.000-Jahresmaßstab, Stichwort Milankovic. Es geht also mehr um meteorologisch-phänologisch. Das Hamburger Abendblatt behauptete unter Bezug auf dpa:

Die Klimaerwärmung sorgt in Europa für eine Verschiebung der Jahreszeiten. Das Frühjahr kommt heute sechs bis acht Tage früher als vor 30 Jahren. Das haben Forscher in einer Studie unter Federführung der TU München herausgefunden. Bei der weltweit größten Studie dieser Art wurden 550 Pflanzen in 17 Ländern untersucht. Die Auswertung von Blütezeit, Fruchtreife und Blattverfärbung ergab, dass der Beginn von Frühjahr und Sommer stark von der Temperatur vorangehender Monate abhängt. Diese Phasen verfrühten sich um ein bis fünf Tage pro Grad Celsius Erwärmung.

Eine anerkannte Messgröße zum Frühlingsbeginn ist die Forsythienblüte. Wieder Wikipedia:

Der Hamburger Forsythien-Kalender ist die phänometrische Aufzeichnung der Zeitpunkte des Blühbeginns der Forsythiensträucher an der Lombardsbrücke in Hamburg seit 1945. Im zerstörten Hamburg, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, fielen Carl Wendorf am 27. März 1945 die blühenden Forsythiensträucher inmitten der Trümmer an der Lombardsbrücke auf. Er beschloss jedes Frühjahr den Blühbeginn zu notieren, was zu einer lückenlosen Aufzeichnung ab 1945 führte. Seit dem Tod von Carl Wendorf im Jahr 1984 führt Jens Iska-Holtz diese Liste weiter. Er meldet die Daten als phänologischer Beobachter an den Deutschen Wetterdienst [DWD].

Und genau dort, beim DWD, wollen wir uns nun über die harten Daten informieren. Der erwähnte Strauch an der Hamburger Lombardsbrücke erfüllt alle an die Phänologie gestellten Forderungen: Immer der gleiche Strauch, immer der gleiche Standort, immer die gleichen zwei Beobachter, also kein Personenaustausch. Auf der DWD-Webseite finden wir die folgende Kurve:

Abbildung 1: Forsythien-Blühbeginn in Hamburg. Abbildungsquelle: DWD.

 

Gut zu erkennen: Im Maßstab der letzten 50 Jahren ist in der Tat ein Vorrücken der Forsythienblüte im Jahresverlauf zu erkennen. Diese Verschiebung ist jedoch keineswesg gleichmäßig abgelaufen. Vielmehr hat es im Jahr 1988 einen abrupten Bruch gegeben, als die Hamburger Forsythien plötzlich von einem Jahr aufs andere um 50 Tage früher blüten. Unglaublich aber wahr. Betrachtet man 5-Jahres-Mittelwerte, dann ist der Unterschied nicht ganz so groß, beträgt aber immer noch geschätzte 20 Tage. Die Aussage, dass es heute früher blüht als vor 50 Jahren, ist also prinzipiell korrekt.

Betrachtet man jedoch die Zeit ab 1988, so stellt sich die Situation gänzlich anders dar. Der Blüh-Termin der Hamburger Forsythien schiebt sich offenbar immer weiter nach hinten, verspätet sich also (Abbildungen 1 und 2).

 

Abbildung 2: Blühbeginn der Forsythien an der Hamburger Lombardsbrücke. Daten: DWD. Graphik: J. Kowatsch

 

Der Klimawandel der letzten Jahrzehnte scheint also eher eine abkühlende Wirkung zu besitzen. Lesen können wir das nirgendwo. Im Gegenteil. Noch vor gut 10 Jahren (20.3.2004) behauptete die Schwäbische Post das genaue Gegenteil:

Forsythien blühen immer früher: Mitte März statt Mitte April
Der Frühling in der Natur beginnt Experten zufolge in Deutschland immer früher. ‚Die Haselblüte, die den Beginn des Vorfrühlings kennzeichnet, hat sich seit dem Ende der 80er Jahre um zwei bis drei Wochen nach vorne verschoben‘, sagt Rainer Fleckenstein vom Deutschen Wetterdienst.

Hochkurios – und dazu offensichtlich auch noch falsch, wenn man sich die offizielle Forsythien-Reihe des DWD in Abbildung 1 anschaut, selbst zum Zeitpunkt der Aussage 2004. Auch Der Standard brachte 2015 einen ähnlich verwunderlichen Artikel, allerdings mit Bezug auf Österreich:

Trend bestätigt: Pflanzen blühen immer früher im Jahr
Wien – Die heimische Flora beginnt immer früher zu blühen: Dass dieser Eindruck tatsächlich einem nachweisbaren Trend entspricht, haben nun Forscher der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) nachgewiesen. In einem noch bis 2016 laufenden Projekt erforschen ZAMG und Kooperationspartner aus dem Wissenschafts- und Bildungsbereich die Klimaauswirkungen auf Pflanzen. So ist etwa die Marillenblüte heuer um fünf Tage früher. „Im Vorjahr waren es sogar 19 Tage. Auch Austrieb und Blattentfaltung der Kastanienbäume sind heuer rund fünf Tage früher als im langjährigem Mittel“, sagte ZAMG-Experte Thomas Hübner über das Phänomen.

Zurück nach Hamburg: Was könnte hinter dem Regimewechsel im Forsythienblühen um 1988 stecken? Schauen wir uns hierzu den Ozeanzyklus der Atlantischen Multidekadenoszillation (AMO) an (Abbildung 3a):

Abbildung 3a: Verlauf derAtlantischen Multidekadenoszillation (AMO). Quelle: Wikipedia. This image is in the public domain in the United States because it only contains materials that originally came from the United States Geological Survey, an agency of the United States Department of the Interior.

 

Um 1988 schnellte die AMO steil nach oben. Der 60-Jahreszyklus begann sich damals allmählich von der kühlen negativen (blauen) Phase in eine warme positive (rote) Phase zu verlagern. Dieser Trend zum Regimewechsel ließ die Temperaturen steigen und führte zum durchschnittlich früheren Blühzeitpunkt in den letzten 30 Jahren.

Es ist also wichtig, die Statistik über die gesamten 60 Jahre des AMO-Zyklus zu betrachten. Äpfel mit Äpfeln, Birnen mit Birnen. Vergleichen wir daher die positiven AMO-Phase 1940 und 2000. Glücklicherweise begann die systematische Forsythien-Beobachtung in Hamburg just während dieser letzten positiven AMO-Phase. Ergebnis: Die Forsythien blühten um 1940 deutlich später als heute. Das macht auch Sinn, denn es ist ja seitdem auch deutlich wärmer geworden, ganz unabhängig vom AMO-Zyklus. Die klimatische Langzeiterwärmung hatte bekanntlich sowohl natürliche als auch anthropogene Gründe. Die quantitative Aufteilung ist noch unklar.

Noch deutlicher wird es, wenn wir die Nordatlantische Oszillation (NAO) betrachten (Danke für den Hinweis an Leser. K.S.). Gegen 1988 schießt die NAO stark nach oben (Abbildung 3b).

Abbildung 3b: Nordatlantische Oszillation (NAO). Quelle: Wikipedia. By Delorme [Public domain], via Wikimedia Commons

 

Auch bei der Arktischen Oszillation geht es um 1988 steil nach oben (Abbildung 3c):

Abbildung 3c: Arktische Oszillation (AO). Quelle: Wikipedia. By Giorgiogp2 (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

 

Dazu kommt noch der städtische Wärmeinseleffekt. Hat auch er eine Rolle für die Forsythien gespielt? Der untersuchte Forsythienstandort befindet sich an der Hamburger Lombardbrücke, im Grenzbereich von Binnen- und Außenalster. Ein echter Verkehrsknotenpunkt. Hier verlaufen in engster Nähe zwei parallel Hauptverkehrsadern, getrennt durch die wichtigste Hamburger Bahnstrecke, wo im 5-Minutentakt ICE-, IC-, Regional- und Güterzüge vorbeifahren. Inwieweit könnte die Stadtentwicklung hier zur Erwärmung beigetragen haben?

Es ist empirisch erwiesen und unstrittig, dass die Höhe des städtischen Wärmeinseleffekts an die Bevölkerungszahl in einer Region gekoppelt ist (aus Schlünzen 2012):

Abbildung 4: Städtischer Wärmeinseleffekt – Einwohner vs. zusätzliche Erwärmung.

 

Hamburg hat heute einen ausgeprägten städtischen Wärmeineleffekt (aus Schlünzen 2012):

Abbildung 5: Städtischer Wärmeinseleffekt in Hamburg

 

Die Frage ist nun: Wie hat sich der städtische Wärmeinseleffekt in Hamburg in den letzten 70 Jahren verändert? Hierzu ein Blick auf die Bevölkerungsentwicklung: Zwischen 1945-1965 verdoppelte sich die Nachkriegsbevölkerung nahezu (Abbildung 6). Mehr Einwohner, mehr Heizungen, mehr Verkehr. Einen großen Effekt scheint dies jedoch nicht auf die Forsythienblüte gehabt zu haben. Die Blüte ereignete sich relativ spät während des Zeitraums. Vielleicht hat die zunehmende Wärmeinsel im Übergang von der positiven zur negativen AMO-Phase ein noch weiteres Verzögern der Blüte verhindert? Spekulation.

 

Abbildung 6: Bevölkerungsentwicklung in Hamburg seit 1945. Quelle: Wikipedia. By Gorgo [CC0], via Wikimedia Commons

 

Nun hat sich aber auch der Verkehr verändert. Noch in den 60er Jahren konnte sich nicht jeder ein Auto leisten. Heute gibt es viele Zweit- und Drittwagen. Hier eine aufschlussreiche Pendler-Statistik aus einer Dissertation von Rainer Schaub (2003) zur Verkehrsentwicklung in Hamburg (pdf hier). Zwischen 1961 und 1987 ist die Anzahl der motorisierten Berufspendler nach oben geschnellt (Abbildung 7). Eine große Anzahl der Pendler muss dabei jeden Tag über die Lombardsbrücke, vorbei am untersuchten Forsythien-Strauch. Der Effekt hinsichtlich des städtischen Wärmeinseleffekts und die Forsythiendaten ist aber auch hier nicht klar. Bis 1987 blühten die Sträucher relativ spät.

Abbildung 7: Berufspendler in Hamburg. Quelle: Schaub 2003.

 

Es bleibt also unklar, welche genaue quantitative Rolle der städtische Wämeinseleffekt für die Forsythienmessreihe spielt. Der maßgebliche DWD-Forsythien-Phänologe aus Hamburg, Herr Iska-Holtz erklärte am 4. März 2012 gegenüber der Tageszeitung „Die Welt„:

„…Dieser Trend zum Immer-früher-blühen (seit 1951) dürfe allerdings nicht allgemein als Zeichen des Klimawandels angesehen werden, sondern sei eine Besonderheit des urbanen Standorts, der andere Bedingungen für die Blüten schaffe. Die ,Umwelt‘ dieses urbanen Standortes wird ganz wesentlich durch die Stadt und ihre Temperaturen bestimmt…“

Wie auch immer, der Wärmeinseleffekt steckt auf jeden Fall auch in den Hamburger Temperaturen, die in Abbildung 1 vom DWD geplottet sind. Auffällig: Seit 1988 herrscht in Hamburg ein Temperaturplateau, das gut mit der sich verspätenden Forsythienblüte zusammenpasst.

Abbildung 8:Forsythien. Quelle: Wikipedia. By Dontworry (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

 

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