DLR-Modellrechnung: Jährlich werden 1,2 Billionen Insekten von Windkraft-Rotoren in Deutschland getroffen

Es erschien alles so einfach: Wir nutzen einfach die Kraft der Natur, so eine Art perpetuum mobile, und alles wird gut. Wie so oft im Leben, gibt es aber kein kostenloses Mittagessen: There ain’t no such thing as a free lunch. Das gilt auch für die riesigen Windkraftanlagen, die Energie aus dem Wind „fischen“ sollen, die ansonsten ungenutzt bliebe. Ein paar Nachteile gibt es bei der „Windfischerei“ jedoch zu ertragen. Zum einen muss man die hohen Türme in der Landschaft ertragen. Kein schöner Anblick. Der Infraschall stellt für einige Menschen eine schlimme medizinische Belastung dar. Zudem wirken die großen Rotorblätter wie kreisende Messer, töten Vögel und Insekten – alles was sich ihnen in den Weg stellt. Ein hoher ökologischer Preis, den es zu zahlen gilt, wenn man es mit der Windkraft ernst meint. Nach Jahren des Windkraft-Aufbaus, stehen nun allmählich Zahlen zur Verfügung. Und diese könnten Anlass zur Besorgnis geben, wie Spektrum der Wissenschaft am 17. April 2019 berichtete:

Insektensterben: Sorgt die Windkraft für ein Insektensterben?

Einer Modellrechnung zufolge könnten zahlreiche Insekten an den Rotoren von Windkraftanlagen ums Leben kommen. In der Praxis sind dieses Phänomen und seine Folgen bisher aber kaum untersucht – und viele ziehen zu weit reichende Schlüsse aus der Studie.

Seit das Insektensterben in aller Munde ist, bekommt auch die Suche nach den Ursachen entsprechend viel Aufmerksamkeit. Wenn diese dann noch mit einem anderen »Aufreger«-Thema verbunden ist wie der Windkraft, sind Diskussionen vorprogrammiert. So erging es einer Studie, in der Franz Trieb vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Insektenschwund und dem Bau von Windparks ins Gespräch bringt. Die Ergebnisse haben zu heftigen Diskussionen zwischen Befürwortern und Gegnern der Windenergie geführt. Und mancher wollte auch herauslesen, dass der Schwarze Peter in Sachen Insektensterben nun bei den Windrädern liege und nicht mehr bei der Landwirtschaft. Dabei lassen sich solche weit reichenden Schlüsse aus der DLR-Studie gar nicht ziehen.

Franz Trieb ist von der Beobachtung ausgegangen, dass an den Rotorblättern von Windrädern oft jede Menge tote Insekten kleben. Einigen Untersuchungen zufolge kann dadurch die Leistungsfähigkeit der Anlagen massiv abnehmen. So berichteten Gustave Corten vom niederländischen Forschungszentrum für erneuerbare Energien (ECN) und Herman Veldkamp vom dänischen Windkraftanlagenhersteller NEG Micon im Jahr 2001 von einem bis dahin rätselhaften Effekt.

Weiterlesen bei Spektrum der Wissenschaft

Hier die dazugehörige Pressemitteilung der DLR vom 26. März 2019:

DLR-Studie zu Wechselwirkungen von Fluginsekten und Windparks

In einer Studie haben Forscher des DLR die Wechselwirkungen von Fluginsekten und Windparks untersucht. Die in der Studie angestellte Modellrechnung gibt Hinweis darauf, dass die Größenordnung der betroffenen Fluginsekten relevant für die Stabilität der Fluginsektenpopulation sein und damit den Artenschutz und die Nahrungskette beeinflussen könnte. Die Studie zieht weder den Schluss, dass die Windenergie Hauptverursacher des Insektenschwunds ist, noch dass sie daran unbeteiligt ist. Die Studie empfiehlt eine empirische Überprüfung der in der Studie theoretisch berechneten Verluste, um die Zusammenhänge von Insektenmigration und Windparkbetrieb besser verstehen und zeitnah Maßnahmen zur Überwachung und Vermeidung von Insektenschlag entwickeln und umsetzen zu können.

Seit 25 Jahren arbeitet Dr. Franz Trieb in der Energiesystemanalyse des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Die gleichnamige Abteilung des DLR-Instituts für Technische Thermodynamik in Stuttgart untersucht Energietechnologien mit dem Gedanken einer umfassenden Nachhaltigkeit, die ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Faktoren berücksichtigt und hat damit maßgeblich zum Erfolg erneuerbarer Energien in Deutschland und international beigetragen. Das Ziel von Franz Trieb und seinen Kollegen ist es, ein sachliches Bild zu entwerfen, um Diskussionen und Entscheidungsfindungsprozesse zu unterstützen. Mit seiner gesamten Energieforschung engagiert sich das DLR dafür, Technologien und Szenarien für ein nachhaltiges Energiesystem zu entwickeln, das den Energiebedarf von Wirtschaft und Gesellschaft deckt.

Herr Dr. Trieb, wie kommt man auf das Thema, die Auswirkung von Windparks auf Fluginsekten zu untersuchen?

DR. FRANZ TRIEB: Bei einer umfassenden Bewertung deutscher Energieszenarien auf Basis einer Vielzahl von Indikatoren, die wir im Jahr 2017 durchgeführt haben(1), zeigte sich als eine noch offene Zukunftsfrage, wieweit Windparks und Fluginsekten während ihrer Migration zu neuen Brutplätzen miteinander verträglich sind. Erste Recherchen ergaben, dass Überreste von Fluginsekten an Rotorblättern zu hohen Verlusten beim Wirkungsgrad der Windkraftanlagen führen können und den weltweiten Aufbau einer Reinigungsindustrie für Rotorblätter motiviert haben. Deshalb haben wir eine Studie zu dem Thema durchgeführt und dafür interdisziplinäre Expertise aus den Bereichen Insektenkunde, Atmosphärenphysik, Windenergie, Aerodynamik und DNA-Barcoding – einer Methode zur Artenbestimmung anhand der DNA-Sequenz – hinzugezogen.

Was war die Ausgangslage für Ihre Studie?

TRIEB: Heute existiert umfassende Fachliteratur dazu, dass Fluginsekten in großen Schwärmen auch hohe, schnelle Luftströmungen aufsuchen. Sie lassen sich vom Wind zu entfernten Brutplätzen tragen. Beobachtungen und Messungen konnten weltweit hohe Insektenkonzentrationen in jenen Höhenbereichen zwischen 20 und 220 Metern über Grund feststellen, die auch Rotoren von Windkraftanlagen nutzen. Das Phänomen des sogenannten Insektenschlags kann die Leistung von Windkraftanlagen um bis zu 50 Prozent verringern – das ist in Theorie und Praxis intensiv untersucht. Bisher wurde allerdings nicht untersucht, welche Folgen der Insektenschlag an Windrotoren für die Insektenpopulation und das Ökosystem haben könnte.

Was war der Ansatz Ihrer Studie? Wie sind Sie vorgegangen?

TRIEB: Wir haben zuerst umfassend recherchiert, bereits vorliegende wissenschaftliche Daten gesammelt und ausgewertet. Auf Basis dieser Daten haben wir dann eine eigene Modellrechnung erstellt. Diese Modellrechnung basiert zum einen auf einer durchschnittlichen Insektendichte von rund drei Tieren pro 1000 Kubikmeter Luft in Höhe der Windrotoren. Grundlage dieser Zahl waren regelmäßige Fangflüge durch Insektenkundler, die zwischen 1998 und 2004 über Schleswig Holstein stattgefunden haben(2). Zum anderen haben wir für unsere Modellrechnung den Volumenstrom, also den „Luftdurchsatz“ aller in Deutschland betriebenen Windparks hochgerechnet: Insgesamt stehen in Deutschland rund 30.000 Windräder mit einer Rotorfläche von insgesamt circa 160 Quadratkilometern, die bei einer nominalen Windgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern durchschnittlich 1000 nominale Volllaststunden während der Insektenflugperiode von April bis Oktober erreichen. Durch einfache Multiplikation dieser Zahlen haben wir einen saisonalen Luftdurchsatz von etwa 8 Millionen Kubikkilometern berechnet – das ist mehr als das Zehnfache des gesamten deutschen Luftraums bis in eine Höhe von zwei Kilometern. Multipliziert man Insektendichte und Luftdurchsatz, dann durchfliegen rund 24.000 Milliarden Insekten pro Jahr zusammen mit der Luft die Rotoren in Deutschland.

Eine einfache Näherung dabei entstehender Schäden kann aus Studien zur Verschmutzung von Rotorblättern durch Fluginsekten abgeleitet werden. Dafür werden vier Faktoren miteinander multipliziert: das Verhältnis (5 Prozent) der aus Windrichtung sichtbaren Blattfläche zu der von den Rotorblättern überstrichenen kreisrunden Rotorfläche, der durchschnittliche Anteil der verschmutzten Blattfläche auf beiden Seiten der Rotorblätter von zusammen rund 80 Prozent bezogen auf die sichtbare Blattfläche, der sogenannte Sammelwirkungsgrad der Rotorblätter für Fluginsekten von durchschnittlich 40 Prozent und das Verhältnis der mittleren relativen Blattgeschwindigkeit (circa 45 Meter pro Sekunde an der Blattmitte) zur nominalen Windgeschwindigkeit (14 Meter pro Sekunde) von etwa 3,2. Demnach werden durchschnittlich etwa 5 Prozent der Tiere getroffen, die einen laufenden Rotor durchfliegen. Das sind rund 1200 Milliarden Insekten pro Jahr. Diese Zahlen berücksichtigen nur Tiere, die sichtbare Rückstände auf den Rotorblättern hinterlassen.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus der von Ihnen angestellten Modellrechnung?

TRIEB: Unsere Modellrechnung gibt Hinweis auf einen noch nicht umfassend erforschten Aspekt der Windenergie: Rund 1200 Milliarden Fluginsekten werden beim Durchfliegen der Rotoren von Windparks in Deutschland pro Jahr getroffen. Diese Größenordnung der betroffenen Fluginsekten könnte ein relevanter Faktor für die Stabilität der Fluginsektenpopulation sein und damit den Artenschutz und die Nahrungskette beeinflussen.

Welche Schlüsse erlaubt die Modellrechnung ausdrücklich nicht? Sprich, wo brauchen Sie als Forscher noch weitere Daten und Untersuchungen?

TRIEB: Wir können keine belastbaren Aussagen darüber treffen, welchen Anteil die in der Studie berechneten Verluste von rund 1.200 Milliarden Fluginsekten am Insektenschwund haben. Der Grund dafür ist: Wir wissen schlichtweg nicht, wie groß die Gesamtpopulation beziehungsweise der Insektenschwund in konkreten Zahlen ist. Außerdem gibt es bisher keine absoluten Zahlen zu anderen negativen Auswirkungen auf die Insektenpopulation beispielsweise durch Pestizide, intensive Landwirtschaft, Klimawandel oder Urbanisierung, sodass wir unsere Zahlen nicht mit anderen Einflüssen vergleichen können.

Welches weitere Vorgehen würden Sie auf Basis der Studienergebnisse vorschlagen?

TRIEB: Aus den aktuell zur Verfügung stehenden Zahlen und der DLR-Modellrechnung kann man weder ableiten, dass die Windenergie eine nennenswerte Rolle beim Insektenschwund spielt, noch dass sie daran unbeteiligt ist. Aus wissenschaftlicher Sicht wäre eine empirische Überprüfung der in unserer Studie theoretisch berechneten Verluste als nächster Schritt sehr sinnvoll. Ziel muss es dabei sein, die Zusammenhänge von Insektenmigration und Windparkbetrieb besser zu verstehen. Mit der Studie bieten wir unser Wissen und Know-how aus einer einjährigen Recherche an, damit Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen gemeinsam mit Industrie, Betreibern und Politik Maßnahmen entwickeln und umsetzen können, um potenzielle Umweltschäden durch Windparks in Zukunft zu verringern.

Eine Idee wäre zum Beispiel ein automatisches Schwarmerkennungssystem, das die Rotoren von Windkraftanlagen entsprechend steuert. Eine einfache Maßnahme, um betroffene Arten zu identifizieren, wäre eine regelmäßige DNA-Analyse der Insektenrückstände auf Rotorblättern. Eine bisher nicht untersuchte potenzielle Schadensquelle ohne sichtbare Rückstände ist das Durchfliegen des Unterdrucks auf der Saugseite der Rotorblätter. Die Auswirkungen des entsprechenden Barotraumas auf den Atmungsapparat und andere Organe sollten geprüft werden.

Download der englischen Originalstudie: Interference of Flying Insects and Wind Parks (FliWip)

Deutsche Kurzfassung und Faktencheck.

(1) Trieb, Franz/Hess, Dennis: Wege zur regenerativen Stromversorgung II – Auswirkungen und Kosten, in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen Heft 12, 2017, S.56 ff und Trieb, Franz: Wege zur regenerativen Stromversorgung III – Elemente und Ausgestaltung, in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen Heft 6, 2018, Tabelle auf S. 60.

(2) Weidel, H.: Die Verteilung des Aeroplanktons über Schleswig-Holstein, Dissertation, Christian-Albrechts-Universität Kiel, 2008, https://d-nb.info/1019553197/34.

 

 

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