Die verschwundenen Vögel in Nordamerika: Wie konstruiert man dafür einen Schuldigen?

Von Uli Weber

ZEIT Online meldete am 20. September 2019 unter dem Titel „Drei Milliarden Vögel seit 1970 verschwunden“:

In Nordamerika gibt es laut einer in „Science“ veröffentlichten Studie ein Viertel weniger Vögel als vor 50 Jahren. Schuld daran ist demnach die intensive Landwirtschaft.“

Immerhin wurde dort auf einen Artikel auf „ScienceMag.org“ verlinkt, der wiederum zur Originalveröffentlichung führte: REPORT “Decline of the North American avifauna” Kenneth V. Rosenberg et al. (2019) DOI: 10.1126/science.aaw1313, erschienen auf Science am19. Sept. 2019. Im Abstract heißt es dort, Zitat:

Species extinctions have defined the global biodiversity crisis, but extinction begins with loss in abundance of individuals that can result in compositional and functional changes of ecosystems. Using multiple and independent monitoring networks, we report population losses across much of the North American avifauna over 48 years, including once common species and from most biomes. Integration of range-wide population trajectories and size estimates indicates a net loss approaching 3 billion birds, or 29% of 1970 abundance. A continent-wide weather radar network also reveals a similarly steep decline in biomass passage of migrating birds over a recent 10-year period. This loss of bird abundance signals an urgent need to address threats to avert future avifaunal collapse and associated loss of ecosystem integrity, function and services.”

Der freundliche GOOGLE-Übersetzer sagt: Das Aussterben von Arten hat die globale Biodiversitätskrise definiert, aber das Aussterben beginnt mit einem Verlust des Überflusses an Individuen, der zu Veränderungen der Zusammensetzung und der Funktionen von Ökosystemen führen kann. Mithilfe mehrerer und unabhängiger Überwachungsnetzwerke melden wir Populationsverluste in einem Großteil der nordamerikanischen Avifauna über einen Zeitraum von 48 Jahren, einschließlich früher verbreiteter Arten und der meisten Biome. Die Einbeziehung von Populationsverläufen und -schätzungen über weite Strecken zeigt einen Nettoverlust von fast 3 Milliarden Vögeln oder 29% des Vorkommens von 1970. Ein kontinentweites Wetterradarnetz zeigt auch einen ähnlichen starken Rückgang der Biomassepassage von Zugvögeln in den letzten 10 Jahren. Dieser Verlust an Vogelreichtum weist auf die dringende Notwendigkeit hin, künftigen Bedrohungen durch den Zusammenbruch von Avifaunas und dem damit verbundenen Verlust der Integrität, Funktion und der Dienstleistungen des Ökosystems zu begegnen. In der Arbeit heißt es dann, Zitat mit Hervorhebungen:

We evaluated population change for 529 species of birds in the continental United States and Canada (76% of breeding species), drawing from multiple standardized bird-monitoring 20 datasets, some of which provide close to fifty years of population data. We integrated range-wide estimates of population size and 48-year population trajectories, along with their associated uncertainty, to quantify net change in numbers of birds across the avifauna over recent decades (18). We xalso used a network 143 weather radars (NEXRAD) across the contiguous U.S. to estimate long-term changes in nocturnal migratory passage of avian biomass through the airspace 25 in spring from 2007 to 2017.”

Der freundliche GOOGLE-Übersetzer sagt mit [Korrektur]: Wir haben die Populationsveränderungen für 529 Vogelarten in den kontinentalen Vereinigten Staaten und Kanada (76% der Brutarten) anhand mehrerer standardisierter Vogelbeobachtungsdatensätze bewertet, von denen einige nahezu 50 Jahre lang Bestand[e]sdaten liefern. Wir haben bereichsweite Schätzungen der Populationsgröße und des 48-jährigen Populationsverlaufs zusammen mit den damit verbundenen Unsicherheiten integriert, um die Nettoveränderung der Vogelzahlen in der Avifauna in den letzten Jahrzehnten zu quantifizieren (18). Wir verwendeten auch ein Netzwerk von 143 Wetterradargeräten (NEXRAD) in den angrenzenden USA. Schätzung der langfristigen Veränderungen des nächtlichen Migrationswegs von Vogelbiomasse durch Luftraum 25 im Frühjahr 2007 bis 2017.

Weiter heißt es in dieser Arbeit, Zitat mit Hervorhebungen:

Results from long-term surveys, accounting for both increasing and declining species, reveal a net loss in total abundance of 2.9 billion (95% CI = 2.7-3.1 billion) birds across almost all biomes, a reduction of 29% (95% CI = 27-30%) since 1970 (Figure 1; Table 1). Analysis of NEXRAD data indicate a similarly steep decline in nocturnal passage of migratory biomass, a 35 reduction of 13.6 } 9.1% since 2007 (Figure 2A).”

Der freundliche GOOGLE-Übersetzer sagt: Ergebnisse von Langzeiterhebungen, bei denen sowohl zunehmende als auch abnehmende Arten berücksichtigt wurden, zeigen einen Nettoverlust bei der Gesamtzahl von 2,9 Milliarden (95% CI = 2,7-3,1 Milliarden) Vögeln in nahezu allen Biomen, was einer Verringerung von 29% (95% CI) entspricht = 27-30%) seit 1970 (Abbildung 1; Tabelle 1). Die Analyse der NEXRAD-Daten ergab einen ähnlichen starken Rückgang der nächtlichen Passage von wandernder Biomasse, eine Verringerung um 13,6% und 9,1% seit 2007 (Abbildung 2A).

Abbildung zu Rosenberg et al. (2019) aus dem Science Magazin

In Tabelle S1 wird die zugrunde liegende Datenbasis beschrieben, Zitat mit Hervorhebungen:

Data sources for population size estimates and population trajectories for 529 North American bird species included in the net population change analysis for the present study. We used published sources of data wherever possible, and applied published methods to calculate estimates for the remaining species. Brief description of methodology, time-span, seasonal, and geographic coverage of surveys and other data sources provided, along with number of species for which that source was used and key citations.

Der freundliche GOOGLE-Übersetzer sagt: Datenquellen für Populationsgrößenschätzungen und Populationsverläufe für 529 nordamerikanische Vogelarten, die in die Analyse der Nettopopulationsänderung für die vorliegende Studie einbezogen wurden. Wir haben, wo immer möglich, veröffentlichte Datenquellen verwendet und veröffentlichte Methoden angewendet, um Schätzungen für die verbleibenden Arten zu berechnen. Eine kurze Beschreibung der Methodik, des Zeitraums, der saisonalen und geografischen Abdeckung von Erhebungen und anderen bereitgestellten Datenquellen sowie der Anzahl der Arten, für die die Quelle verwendet wurde, und der wichtigsten Zitate.

Rosenberg et al. (2019) hatten in ihrer Veröffentlichung also unterschiedliche regionale Langzeitbeobachtungen und neuere Radardaten zur Verfügung, um die Entwicklung der Vogelfauna Nordamerikas zu untersuchen. Aus diesen Daten wurden dann mit statistischen Methoden Aussagen über die Populationsentwicklung von 529 Vogelarten in den kontinentalen Vereinigten Staaten und Kanada abgeleitet. Gehen wir hier zunächst einmal davon aus, dass alle diese Berechnungen korrekt durchgeführt worden sind. Es fällt aber auf, dass Informationen über die Größe der untersuchten Stichprobe gegenüber der betrachteten Gesamtmenge als Nachweis für deren statistische Relevanz fehlen. Und was dann ebenfalls noch auffällt ist, dass dort keinerlei Angaben über eine mögliche anthropogene Überprägung des jeweiligen Beobachtungsgebietes während des betreffenden Zeitraums von bis zu 49 Jahren gemacht werden. Am Schluss lassen Rosenberg et al. (2019) dann endlich die Katze aus dem Sack, Zitat:

Steep declines in North American birds parallel patterns of avian declines emerging globally (14, 15, 22, 24). In particular, depletion of native grassland bird populations in North America, driven by habitat loss and more toxic pesticide use in both breeding and wintering areas (25), mirrors loss of farmland birds throughout Europe and elsewhere (15).”

Der freundliche GOOGLE-Übersetzer sagt mit [Einfügung]: Starke Rückgänge bei nordamerikanischen Vögeln [zeigen] parallele Muster des weltweiten Rückgangs von Vögeln (14, 15, 22, 24). Insbesondere der Rückgang der einheimischen Grünlandvogelpopulationen in Nordamerika, der durch den Verlust des Lebensraums und den Einsatz giftiger Pestizide sowohl in Brut- als auch in Überwinterungsgebieten (25) verursacht wurde, spiegelt den Verlust von Ackerlandvögeln in ganz Europa und anderswo wider (15).

Eine kritische Zusammenfassung: Rosenberg et al. (2019) berechnen in einer statistischen Auswertung von örtlichen Langzeitdaten also einen Rückgang der nordamerikanischen Vogelfauna um etwa drei Milliarden Individuen seit 1970. Die Gründe dafür werden aber nicht etwa direkt aus konkreten Veränderungen in den jeweiligen Beobachtungsräumen abgeleitet, sondern pauschal als Literaturzitate aus aller Welt zusammengetragen – und damit werden dann ganz zufällig alle vordergründigen Vorurteile gegen die industrielle Landwirtschaft bestätigt.

Die pauschale Hervorhebung des Einsatzes von „giftigen Pestiziden“ als Erklärung für den dramatischen Rückgang der nordamerikanischen Vogelfauna ist insofern besonders perfide, weil in dem betrachteten Untersuchungszeitraum von bis zu 49 Jahren ausgerechnet deren Gebrauch in den Industrienationen gesetzlich stark einschränkt worden war; insbesondere fehlt hier eine explizite Nennung der betreffenden Produktbezeichnungen. Weiterhin fehlt jede qualitative Erklärung dafür, wie eine Verringerung des Pestizideinsatzes in der industriellen Landwirtschaft zu einer gegenläufig negativen Entwicklung der Vogelfauna geführt haben könnte, wo doch die Erholung der Greifvogelbestände nach dem DDT-Verbot ausdrücklich Erwähnung findet. Gerade in diesem Zusammenhang wäre aber auch ein konkreter Abgleich des Studienergebnisses mit einer möglichen Veränderung der Landnutzung im betrachteten Beobachtungsraum erforderlich gewesen, was seitens Rosenberg et al. (2019) ebenfalls nicht vorgelegt worden ist. Deren Abbildung S1 legt vielmehr nahe, dass wesentliche Negativindikationen eher auf die Überwinterungsgebiete in Mittel- (knapp -20%) und Südamerika (etwa -40%) zurückzuführen sind, was aber im Veröffentlichungstext wiederum nur gleichrangig erwähnt wird, und das auch noch mit einem unzutreffenden Literaturzitat (25) auf Stanton et al. (2018), Zitat von dort mit Hervorhebungen:              

Here we evaluated changes in North American farmland bird populations over time and conducted a systematic review and analysis of the published literature to identify the major causes.”

Der freundliche GOOGLE-Übersetzer sagt: Hier haben wir die Veränderungen in den Populationen nordamerikanischer Ackerlandvögel im Laufe der Zeit bewertet und eine systematische Überprüfung und Analyse der veröffentlichten Literatur durchgeführt, um die Hauptursachen zu identifizieren.

Die zugehörigen Literaturzitate (14, 15, 22, 24 und 25) datieren übrigens auf die Jahre (2008, 2015, 2004, 2014 und 2018) und geben zwangsläufig den Kenntnisstand zum jeweiligen Veröffentlichungszeitpunkt wieder.

Der letzte Satz der Veröffentlichung von Rosenberg et al. (2019) bringt die Nachtigall dann vollends zum trapsen, Zitat:

Our results signal an urgent need to address the ongoing threats of habitat loss, agricultural intensification, coastal disturbance, and direct anthropogenic mortality, all exacerbated by climate change, to avert continued biodiversity loss and potential collapse of the continental avifauna.”

Und der freundliche GOOGLE-Übersetzer trapst gleich mit [Korrektur]: Unsere Ergebnisse weisen auf die dringende Notwendigkeit hin, die anhaltenden Bedrohungen durch den Verlust von Lebensräumen, die Intensivierung der Landwirtschaft, die Störung der Küstengebiete und die direkte anthropogen[e] [verursachte] Sterblichkeit zu bewältigen, die durch den Klimawandel noch verstärkt werden, um den anhaltenden Verlust der biologischen Vielfalt und den möglichen Zusammenbruch der kontinentalen Avifauna abzuwenden.

Fazit dieser Analyse: Rosenberg et al. (2019) fokussieren in ihrer Kernaussage auf Nordamerika, hatten die Bewertung ihrer Ergebnisse jedoch nicht aus möglichen Veränderungen in ihrem eigenen Beobachtungsraum abgeleitet, sondern sich zur Erklärung passender Analogien aus aller Welt bedient, ohne dafür einen entsprechenden Plausibilitätsnachweis geliefert zu haben. Es ergibt sich aus den vorgelegten Daten aber vielmehr eine starke Indikation, dass der berichtete Populationsverlust bei Zugvögeln gar nicht in Nordamerika ausgelöst wird, sondern in deren dort lediglich mit einem unzutreffenden Literaturbezug erwähnten Überwinterungsgebieten. In ihrem Schlußsatz verdichten die Autoren dann ihre fremden Analogien wiederum zu dem bekannten gesellschaftspolitischen Narrativ einer von Mensch und Klimawandel bedrohten (Vogel-)Welt.

Durch diesen konstruierten gesellschaftspolitischen  Zirkelschluss verlassen Rosenberg et al. (2019) eindeutig den wissenschaftlichen Vertrauensbereich ihrer eigenen Untersuchung.

Eine Grenzwertbetrachtung dieser außergewöhnlich unwissenschaftlichen und für den wissenschaftlichen Laien kaum identifizierbaren Argumentationskette könnte in einer Stützung willkürlicher Thesen durch eine wechselseitige Zitierung in entsprechenden „wissenschaftlichen“ Veröffentlichungen gipfeln (zum Beispiel hier im 2. Teil).

Schlussbemerkung: Bei einem solchen Zirkelschluss ist es für die wissenschaftliche Bewertung unerheblich, ob die Berechnungen von Rosenberg et al. (2019) korrekt durchgeführt worden sind oder ob es sich dabei vielleicht ebenfalls um die „schwindelfreie“ Extrapolation einer viel zu dünnen Datengrundlage zwecks gretaischer Panikgenese handeln mag. Aber immerhin wird auch hier wieder einmal der subjektive Eindruck gestärkt, dass zumindest die Lesbarkeit von wissenschaftlichen Arbeiten umgekehrt proportional zur Anzahl der beteiligten Autoren ist: Rosenberg et al. (2019) = Kenneth V. Rosenberg, Adriaan M. Dokter, Peter J. Blancher, John R. Sauer, Adam C. Smith, Paul A. Smith, Jessica C. Stanton, Arvind Panjabi, Laura Helft, Michael Parr, Peter P. Marra.

Artikelfoto: U. Weber

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