Gletscherschwund: Hätten Sie’s gemerkt?

Von Uli Weber

In der öffentlichen Klimadebatte arbeiten Wissenschaft und Medien offenbar eng zusammen. Ihre individuellen Beiträge sind zunächst eher harmlos und entwickeln ihre klimareligiöse Wirkung erst gemeinsam beim interessierten Betrachter, wenn vorsichtige wissenschaftliche Formulierungen auf steile Überschriften treffen. Die „Fridays for Future“-Schülerdemonstrationen erhalten nicht nur eine hohe mediale und öffentliche Aufmerksamkeit, sondern sie werden auch begleitet von immer neuen alarmierenden Berichten über Gletscherschwund und Meeresspiegelanstieg. Im Teletext von RTL wurde beispielsweise am 8. April 2019 gemeldet, „Gletscherschwund nimmt stark zu“:

 

Abbildung: Screenshot vom RTL Teletext am 8. April 2019 um 22:48 Uhr

 

Ein zunehmender Gletscherschwund ist zunächst eine sehr aufrüttelnde wissenschaftliche Aussage. Und diese Aussage ruft bei einem interessierten und wohlinformierten Bundesbürger sofort Assoziationen von schneefreien Hochgebirgen und überschwemmten Pazifikinseln hervor. Schließlich hat ja jeder von uns bereits in Medienberichten die unterschiedlichsten Bilder von abschmelzenden Gletschern und Überschwemmungskatastrophen gesehen, manch einer hat solche Ergebnisse oder Ereignisse sogar schon einmal selber direkt vor Ort miterlebt. Und wenn wir uns jetzt genügend gegruselt haben, dann schauen wir uns einmal die hier vermittelte Faktenlage etwas genauer an:

Aussage: Gletscherschwund nimmt stark zu

Meeresspiegelanstieg: 1 Millimeter / Jahr

Gletscherschwund: 335 Milliarden Tonnen Eis / Jahr

Überschlagsrechnung: Die Erdoberfläche ist zu 70,7 Prozent mit Wasser bedeckt, das sind etwa 361 Millionen Quadratkilometer, von denen allein etwa 321 Millionen Quadratkilometer auf die Ozeane entfallen. Und auf dieser Fläche steigt das Wasser nun um 1 Millimeter pro Jahr. Die Fläche von 321 Mio. qkm multipliziert mit 1mm Meeresspiegelanstieg ergibt ein jährliches Volumen von 321 Milliarden Kubikmetern, was bei 1Tonne (=1.000kg) pro Kubikmeter in etwa dem dort angegebenen jährlichen Gletscherschwund entspricht.

Das war’s auch schon, wenn also 335 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr abschmelzen, steigt der Meeresspiegel global um einen Millimeter, basta! Wie gerade gezeigt wurde, ist diese Berechnung zwar richtig, aber völlig trivial. Es fehlt hier also jeglicher Beweis für die Kernaussage der obigen Horrormeldung, nämlich für einen stark zunehmenden Gletscherschwund.  

Aber es kommt noch viel schlimmer: Denn der natürliche Meeresspiegelanstieg wird üblicherweise mit knapp 2 mm /Jahr angegeben, Wikipedia nennt beispielsweise 1,7 mm/Jahr für den Zeitraum zwischen 1901 und 2010 und durchschnittlich 3,2 mm pro Jahr im Zeitraum von 1993 bis 2010. Die Angabe eines deutlich höheren 17-jährigen Durchschnitts zum Ende der Messperiode für einen 109-jährigen Durchschnittswert, der ja bereits denselben Zeitraum mit überdeckt, weist zunächst einmal auf einen vorliegenden Datenkonflikt hin.
Eine aktuelle Abbildung für den Meeresspiegelanstieg findet sich dann beispielsweise auf EIKE:

Abbildung zum Meeresspiegelanstieg aus dem Artikel „‚Klima-Status-Bericht-2018/19‘ : Klima-Alarmisten in Nöten !“ von Klaus-Eckart Puls am 9. April 2019 auf EIKE

 

Und nun wird auch klar, warum auf Wikipedia zwei Durchschnittswerte für den globalen Meeresspiegelanstieg angegeben werden, nämlich einerseits Pegelmessungen für den Zeitraum zwischen 1901 und 2010 und andererseits Satellitenmessungen für den Zeitraum von 1993 bis 2010; allerdings hatte man dort einfach „vergessen“, explizit auf den messtechnischen Unterschied zwischen diesen beiden Datensätze hinzuweisen und sich stillschweigend eines Äpfel&Birnen-Vergleichs bedient.
Dramatisch ist hier aber allein die Tatsache, dass die Wissenschaft seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht in der Lage gewesen sein soll, die Diskrepanz zwischen Pegel- und Satellitendaten abschließend auszuräumen. Es wäre ein Zeichen von allerhöchster wissenschaftstechnischer Inkompetenz, wenn diese Differenz der Satellitenmessungen von etwa 100 Prozent gegenüber den langjährigen Pegelmessungen tatsächlich noch immer nicht aufgeklärt worden sein sollte. Und als einziger Grund dafür bietet sich die Vermutung an, dass der kürzere Datensatz systembedingt fehlerbehaftet ist; aber offenbar sind diese Satellitendaten mit 3,2 mm/Jahr so schön alarmierend, dass man eine solche Illusion für den zu missionierenden Durchschnittsbürger unbedingt aufrechterhalten muss…

Anmerkung: Der Autor hatte den Eindruck gewonnen, dass offenbar bei der Satellitenaltimetrie zur Meeresspiegelermittlung die Daten von zwei getrennten Meßsystemen zunächst addiert werden, was bei der Übertragung einer solchen Datenmenge zunächst ja auch Sinn machen würde, weil dadurch der Datenstrom halbiert wird. Allerdings müssten diese Daten an irgendeiner Stelle des weiteren Bearbeitungsweges dann noch durch „2“ geteilt werden, was aber anscheinend unterbleibt. Es könnte sich bei dieser Diskrepanz zu den Pegelmessungen also um einen ganz einfachen Bearbeitungsfehler aus der Frühzeit der Satellitenmessungen handeln, von dem man sich aus alarmistischen Gründen jetzt nicht mehr ohne Gesichtsverlust lösen kann. Dagegen kommt Thomas Wysmuller in seinem Vortrag auf der 12. Internationale EIKE-Klima- und Energiekonferenz (IKEK-12) am 23. und 24. November 2018 zu dem Ergebnis, dass in den Berechnungsmodellen für die Meeresspiegelermittlung aus Satellitendaten die glaziale isostatische Korrektur (GIA) mit einem falschen Vorzeichen angebracht wird und sich dadurch der Schmelzwassereffekt verdoppelt. Aber wie dem auch sei, eine korrekte Bearbeitung der globalen Satellitenmessungen würde in beiden Fällen deren aktuelle Ergebnisse zum globalen Meeresspiegelanstieg in etwa halbieren und damit auf die Größenordnung der langjährigen Pegelmessungen zurückführen.

Zwischenergebnis: Mit den Fakten aus der fraglichen RTL Teletext-Nachricht vom 8. April 2019 hätte sich der globale Meeresspiegelanstieg also aktuell halbiert oder gar gedrittelt, was die zugrunde liegende Veröffentlichung der „Forscher aus Zürich“ aber sicherlich so nicht vermitteln wollte.

Nach einiger Recherche konnte schließlich die Originalquelle für die Aussage aus dem RTL Teletext ermittelt werden. Es handelt sich offenbar um den NATURE- Artikel  von Zemp et al. (2019) „Global glacier mass changes and their contributions to sea-level rise from 1961 to 2016”. Dort heißt es im Abstract, Zitat mit Hervorhebungen:

Here we use an extrapolation of glaciological and geodetic observations to show that glaciers contributed 27 ± 22 millimetres to global mean sea-level rise from 1961 to 2016. Regional specific-mass-change rates for 2006–2016 range from −0.1 metres to −1.2 metres of water equivalent per year, resulting in a global sea-level contribution of 335 ± 144 gigatonnes, or 0.92 ± 0.39 millimetres, per year.”

Damit werden die Informationen aus der RTL Teletext-Nachricht vom 8. April 2019 zunächst einmal bestätigt, allerdings nur durch das 10-jährige Mittel im Zeitraum 2006–2016. Die Gletscherschmelze zwischen 1961 und 2016 soll dagegen einen Beitrag von 27 ± 22 Millimeter zum globalen Meeresspiegelanstieg geliefert haben; das wären für diesen Datensatz rein rechnerisch also 0,49mm jährlich, allerdings wegen eines verstärkten Anstiegs 2006–2016 mit einer deutlichen Tendenz zu noch geringeren Werten für den Zeitraum bis 2006 sowie einer völlig unsinnigen Fehlerschwankung.

Auffällig sind hier zunächst zwei völlig unterschiedlich lange Datensätze mit gleichem Enddatum, wie wir das ja bereits aus Wikipedia kennen. Zemp et al. (2019) wollen also einen Anstieg der Gletscherschmelze für den Zeitraum 2006-2016 gegenüber 1961-2016 ermittelt haben und bleiben dabei ausgerechnet den ihre Argumentation stützenden niedrigeren jährlichen Vergleichswert für den Zeitraum 1961 bis 2016 schuldig. Üblicherweise ist echte Wissenschaft immer bestrebt, eindeutig nachvollziehbare Beweise für eine konkrete Aussage beizubringen, und dazu gehören in diesem Fall nun einmal direkt vergleichbare Jahreswerte. Und anstatt die beiden benutzten Zeitreihen direkt auf einander abgestimmt zu haben und daraus dann ihre Argumentation schlüssig und reproduzierbar abzuleiten, heißt es bei Zemp et al. (2019), Zitat mit Hervorhebungen:

Although statistical uncertainty ranges overlap, our conclusions suggest that glacier mass loss may be larger than previously reported. The present glacier mass loss is equivalent to the sea-level contribution of the Greenland Ice Sheet, clearly exceeds the loss from the Antarctic Ice Shee, and accounts for 25 to 30 per cent of the total observed sea-level rise.”

Die Formulierung „our conclusions suggest“ heißt übersetzt „unsere Schlussfolgerungen schlagen vor (besser: legen nahe)“, und selbst die nachfolgende Kernaussage von Zemp et al. (2019) zur konkreten Gletscherschmelze bleibt dann noch im Konjunktiv. Im Bergbaumilieu würde man eine solch überschwere sprachliche Sicherheitsausrüstung als „zugebundene Hose plus Gürtel und Hosenträger“ bezeichnen. Nicht etwa die „vorgelegten Daten beweisen“ oder „weisen (wenigstens) darauf hin“, sondern persönliche „Schlussfolgerungen schlagen (eine Möglichkeit) vor“.

Am Ende stellt die Forschergruppe um Zemp also fest, ihre Schlussfolgerungen legen nahe, der Gletscherschwund könne größer sein als bisher berichtet – also ausdrücklich nicht, dass ihre Daten tatsächlich die medial verbreitete Schlagzeile beweisen, dass der momentane Gletscherschwund größer ist als bisher berichtet wurde.

Von daher ist den Nachrichtenmachern von RTL Teletext der Konjunktiv im Schlußsatz ihrer Meldung vom 8. April 2019 hoch anzurechnen, denn sie hatten die Kernaussage von Zemp et al. (2019) offenbar richtig verstanden – aber wer von den Lesern hat’s wohl überhaupt bemerkt oder gar zutreffend eingeordnet?

Abschlussfrage: Was unterscheidet seriöse Journalisten und Wissenschaftler von käuflichen Mietmäulern?

Antwort: !vitknujnoK reD  (<= hier bitte von rechts mit dem Lesen beginnen)

Am Ende dieser Analyse muss man nämlich feststellen, dass sowohl die Nachrichtenmacher als auch die betreffenden Wissenschaftler der interessierten Öffentlichkeit eine haarsträubend falsche Schreckensmeldung korrekt im Konjunktiv vermittelt hatten. Beide können also überhaupt nichts dafür, wenn ein alarmierter Betrachter zu der völlig irrigen Annahme kommen sollte, der globale Gletscherschwund würde tatsächlich stark zunehmen.

 

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