Anmerkungen zur Meeresspiegel-Studie von Levermann et al. 2020

Von Gastautor

Am 14.02.2020 um 10:03 Uhr meldete t-online.de unter dem Titel „Antarktis-Schmelze wird zum größten Risiko für die Küsten“, Zitat:

Das Eis in der Antarktis schmilzt. Treibhausgase beschleunigen die Entwicklung, da sind sich die Experten sicher. Nun gibt es neue beunruhigende Prognosen für die Entwicklung.“

Die betreffende Studie von Levermann et al. (2020) „Projecting Antarctica’s contribution to future sea level rise from basal ice shelf melt using linear response functions of 16 ice sheet models (LARMIP-2)“ findet man hier: https://www.earth-syst-dynam.net/11/35/2020/

Die 37 Autoren dieser Veröffentlichung sind: Anders Levermann1,2,3, Ricarda Winkelmann1,3, Torsten Albrecht1, Heiko Goelzer4,5, Nicholas R. Golledge6,7, Ralf Greve8, Philippe Huybrechts9, Jim Jordan10, Gunter Leguy11, Daniel Martin12, Mathieu Morlighem13, Frank Pattyn5, David Pollard14, Aurelien Quiquet15, Christian Rodehacke16,17, Helene Seroussi18, Johannes Sutter17,19, Tong Zhang20, Jonas Van Breedam9, Reinhard Calov1, Robert DeConto21, Christophe Dumas15, Julius Garbe1,3, G. Hilmar Gudmundsson10, Matthew J. Hoffman20, Angelika Humbert17,22, Thomas Kleiner17, William H. Lipscomb11, Malte Meinshausen23,1, Esmond Ng12, Sophie M. J. Nowicki24, Mauro Perego25, Stephen F. Price20, Fuyuki Saito26, Nicole-Jeanne Schlegel18, Sainan Sun5, and Roderik S. W. van de Wal4,27   

Diese Autoren sagen im Abstract, Zitat:

The sea level contribution of the Antarctic ice sheet constitutes a large uncertainty in future sea level projections. Here we apply a linear response theory approach to 16 state-of-the-art ice sheet models to estimate the Antarctic ice sheet contribution from basal ice shelf melting within the 21st century…”

Der neutrale Google-Übersetzer sagt: „Der Meeresspiegelbeitrag der Eisdecke der Antarktis stellt eine große Unsicherheit in zukünftigen Meeresspiegelprojektionen dar. Hier wenden wir einen Ansatz der linearen Reaktionstheorie auf 16 hochmoderne Eisschildmodelle an, um den Beitrag der Eisdecke der Antarktis durch das Schmelzen des basalen Eisschelfs im 21. Jahrhundert abzuschätzen…

Und weiter heißt es dort:

„ … The likely range for the RCP2.6 scenario is between 7 and 24 cm, and the very likely range is between 4 and 37 cm. The structural uncertainties in the method do not allow for an interpretation of any higher uncertainty percentiles. We provide projections for the five Antarctic regions and for each model and each scenario separately. The rate of sea level contribution is highest under the RCP8.5 scenario. The maximum within the 21st century of the median value is 4 cm per decade, with a likely range between 2 and 9 cm per decade and a very likely range between 1 and 14 cm per decade.”

Dazu der neutrale Google-Übersetzer: Der wahrscheinliche Bereich für das RCP2.6-Szenario liegt zwischen 7 und 24 cm, und der sehr wahrscheinliche Bereich liegt zwischen 4 und 37 cm. Die strukturellen Unsicherheiten in der Methode erlauben keine Interpretation von Perzentilen mit höherer Unsicherheit. Wir liefern Projektionen für die fünf Antarktisregionen sowie für jedes Modell und jedes Szenario separat. Der Beitragssatz zum Meeresspiegel ist im RCP8.5-Szenario am höchsten. Das Maximum innerhalb des 21. Jahrhunderts des Medianwerts beträgt 4 cm pro Jahrzehnt, mit einem wahrscheinlichen Bereich zwischen 2 und 9 cm pro Jahrzehnt und einem sehr wahrscheinlichen Bereich zwischen 1 und 14 cm pro Jahrzehnt.

Hinweis am Rande: Nach neuesten Kenntnissen solte das Emissionszenario RCP8.5 nicht mehr als Leitlinie für politische Entscheidungen benutzt werden.

Wikipedia gibt bis zum Jahre 2010 einen Meeresspiegelanstieg von knapp 2mm/Jahr an, wobei es für die Satellitenmessungen nach 1993 sehr unterschiedliche Meinungen gibt. Nach einer Durchsicht der Veröffentlichung von Levermann et al. (2020) scheint Abbildung 12 die entscheidenden Aussagen zum künftigen Beitrag von Antarktika zum Meeresspiegelanstieg zu liefern (Zitat: Bildunterschrift mit Hervorhebungen), die betrachteten RCP-Szenarien des IPCC sind rechts daneben dargestellt:

Abbildung Wikipedia: „Prognosen atmosphärischer CO2-Äquivalentkonzentrationen aller Treibhausgase (in PPM pro Volumen) gemäß den vier RCPs laut Fünftem IPCC-Sachstandsbericht.“

Figure 12 Projections from all models of the future sea level contribution of the Antarctic ice sheet under different atmospheric carbon concentration scenarios following the procedure depicted in Fig. 1 and detailed in Sect. 2. The white line represents the median value, the dark shading the likely range (66th percentile around the median), and the light shading the very likely range (90th percentile around the median).”

Der Google-Übersetzer (mit Korrektur und Hervorhebungen): Projektionen aus allen Modellen des zukünftigen Meeresspiegelbeitrags der antarktischen Eisdecke unter verschiedenen atmosphärischen Kohlenstoffkonzentrationsszenarien nach dem [der] in Abb. 1 dargestellten und in Abschn. 2 [beschriebenen Prozedur]. Die weiße Linie repräsentiert den Medianwert, die dunkle Schattierung den wahrscheinlichen Bereich (66. Perzentil um den Median) und die helle Schattierung den sehr wahrscheinlichen Bereich (90. Perzentil um den Median).

Bereits für das Jahr 2020  zeigen sich in den einzelnen von Levermann et al. (2020)  vorgestellten Szenarien sehr individuelle Beiträge zum aktuellen Meeresspiegel. In Kapitel 2 heißt es in der Beschreibung des Workflows unter 1. dazu, Zitat, „The time series start in 1850 and end in 2100“. Mit dem Veröffentlichungsdatum der Studie von Levermann et al. (2020) befinden wir uns also bereits am Beginn des dritten Drittels des betrachteten Zeitraums. Daher ist es schade, dass die Autoren an dieser Stelle keine QC-Betrachtung für ihre Modelle vorgenommen haben. Denn ein gemeinsamer Eichwert für den tatsächlichen Meeresspiegel um das Jahr 2020 hätte den vorgestellten Projektionen gut zu Gesicht gestanden. Schließlich stellen das antarktische Inlandeis und das von ihm gespeiste Schelfeis fast 90 Prozent des Eises und 70 Prozent des Süßwassers unserer Erde dar (Quelle Wikipedia).

Aber schauen wir einmal genauer auf die Abbildung 12 und den erklärenden Text: Die weißen Linien stellen den Medianwert der jeweiligen Projektion dar, darum herum gruppiert sich der dunkel schattierte „wahrscheinliche Bereich“ (66. Perzentil) und am Rand der Verteilung findet sich der hell schattierte „sehr wahrscheinliche Bereich“ (90. Perzentil).

Um nun diese Aussagen von Levermann et al. (2020)  zum Meeresspiegelanstieg zu analysieren, schauen wir erst einmal bei Wikipedia nach den Definitionen, Zitate:

Perzentil:Durch Perzentile (lateinisch „Hundertstelwerte“), auch Prozentränge genannt, wird die Verteilung in 100 umfangsgleiche Teile zerlegt. Perzentile teilen die Verteilung also in 1-%-Segmente auf. Daher können Perzentile als Quantile betrachtet werden, bei denen 100 ⋅ p eine ganze Zahl ist. So entspricht das Quantil Q0,97 dem Perzentil P97: unterhalb dieses Punktes liegen 97 % aller Fälle der Verteilung.“

Median: Der Medianwert entspricht dem Quantil Q0,5.“

Abbildung aus Wikipedia: „Das Quantil Q0,3 (also das 0,3-Quantil) ist der Wert des Punktes einer Verteilung, unterhalb dessen sich 30 % aller Fälle der Verteilung befinden“. Von self created by Marcus Glöder – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=847523

Und mit diesen Definitionen gehen wir jetzt noch einmal in die Bildunterschrift von Abbildung 12 aus Levermann et al. (2020). Die weißen Linien bezeichnen also den Medianwert der jeweiligen Projektion (mit der höchsten individuellen Wahrscheinlichkeit). Darum herum gruppiert sich der „wahrscheinliche Bereich“ (66. Perzentil= Perzentil P66) und am Rand der Verteilung findet sich der „sehr wahrscheinliche Bereich“ (90. Perzentil= Perzentil P90).

Da nun aber in den Abbildungen von Levermann et al. (2020) die beiden Perzentile beidseitig um den Medianwert herum angeordnet sind, muss es sich dabei um Differenzen handeln, und zwar für die dort als „66. Perzentil um den Median“ bezeichnete Fläche um die Differenz (P66-P34) und für die Fläche „90. Perzentil um den Median“ um die Differenz (P90-P10). Diese Differenzflächen werden in der nebenstehenden Grafik qualitativ dargestellt.

Erklärung: Bei einer Gauß-Verteilung steigt die individuelle Eintrittswahrscheinlichkeit für ein Ereignis zunächst einmal an und ist beim Medianwert am größten. Danach fällt dann die Eintrittswahrscheinlichkeit nach rechts wieder ab (schwarze „Glockenkurve“). Wenn allerdings fortlaufend immer größere Flächen der betreffenden Verteilung betrachtet werden (Perzentile), dann steigt natürlich insgesamt auch die Summe der enthaltenen Eintrittswahrscheinlichkeit immer weiter an. Allerdings vergrößert sich dadurch wiederum auch die Schwankungsbreite der Ereignisse. Je größer also die betrachtete Fläche ist, umso höher ist die Eintrittswahrscheinlichkeit für ein Ereignis aus dieser Fläche und dessen Schwankungsbreite. Und bei einer Betrachtung der Gesamtfläche (=Perzentil P100) ist die Eintrittswahrscheinlichkeit dann gleich „1“, weil damit eben alle möglichen Fälle abgedeckt sind.

Der Wert eines Perzentils gibt also lediglich an, welchen Teil einer Verteilung dieses Perzentil mit steigender Eintrittswahrscheinlichkeit repräsentiert, beim Perzentil P90 wären das also 90% der betrachteten Fälle. Bei der hier dargestellten Differenz (P90-P10) sind es immer noch 80 Prozent. Es ist also festzuhalten, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit der jeweils hell schattierten oberen Projektionsbereiche genauso groß ist wie die Eintrittswahrscheinlichkeit des kaum noch sichtbaren unteren hell schattierten Bereichs. Die Kernaussage von Levermann et al. (2020) betrifft aber den Medianwert (weiße Linien) der dort dargestellten Projektionen mit der höchsten individuellen Eintrittswahrscheinlichkeit und weniger als 20 cm Meeresspiegelanstieg zwischen 1900 und 2100.

Abbildung 12 aus Levermann et al. (2020)

Anmerkung: In diese Abbildung wurden nachträglich die horizontalen blauen Linien bei 0,1 und 0,2 Metern eingefügt

Zwischen dem Dekarbonisierungs-Szenario RCP2.6 und dem „Weiterso“-Szenario RCP8.5 liegen im Medianwert für das Jahr 2100 also etwa 5 Zentimeter Meeresspiegelanstieg durch die jeweils hochgerechnete Eisschmelze auf Antarktika. Diese 5 Zentimeter dürften an der Nordseeküste keinem einzigen Deichgraf zusätzliche schlaflose Nächte bereiten.

Als eigentliche Kernaussage von Levermann et al. (2020) lässt sich aus der Abbildung 12 also ableiten, dass unter allen RCP-Szenarien für künftige Treibhausgaskonzentrationen der Medianwert für den antarktischen Anteil des Meeresspiegelanstiegs bis zum Jahre 2100 nur um 5 Zentimeter schwankt und der antarktisch induzierte Meeresspiegelanstieg von 1900 bis 2100 insgesamt unter 20 Zentimeter bleiben wird – und das ist eindeutig eine Entwarnung und kann keine globale Dekarbonisierung begründen.

Die formal korrekte Bezeichnung des Perzentils P90 als „sehr wahrscheinlicher Bereich“ könnte von einem unkundigen Betrachter allerdings auch dahingehend interpretiert werden, dass dem oberen Rand der „hellen Schattierung“ in der jeweiligen grafischen Darstellung der vier RCP-Szenarien die höchste individuelle Eintrittswahrscheinlichkeit zuzumessen sei. Sollte es demnach anhand der Grafiken von Levermann et al. (2020) zu hysterischen medialen Missverständnissen gekommen sein, so liegt das wohlmöglich am unkundigen Betrachter selbst. Es könnte allerdings auch an der Pressemitteilung des PIK zu dieser Veröffentlichung gelegen haben, wo es heißt, Zitat mit Hervorhebungen:

Der Anstieg des Meeresspiegels durch den Verlust von Eismassen der Antarktis könnte schon in naher Zukunft zu einem erheblichen Risiko für den Küstenschutz werden, zeigt eine neue Studie eines Wissenschaftlerteams aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Dänemark, der Schweiz, den Niederlanden, Japan, Australien, Neuseeland, Großbritannien und den USA. Allein durch den Beitrag der Antarktis könnte der globale Meeresspiegel in diesem Jahrhundert dreimal so stark ansteigen wie im letzten Jahrhundert, so das Ergebnis ihres umfassenden Vergleichs der aktuellsten Computermodelle aus aller Welt.“

Wenn wir zu dieser Aussage einmal den Meeresspiegelanstieg zwischen den Jahren 1900 und 2000 aus  der Abbildung 12 von Levermann et al. (2020) für die unterschiedlichen Szenarien abgreifen, kommen wir für den maximalen Medianwert auf deutlich unter 5 Zentimeter. Dieser Wert liegt wiederum deutlich unter dem tatsächlichen Meeresspiegelanstieg, der allein für das 20. Jahrhundert mit etwa 17 cm angegeben wird (Wikipedia). Das Dreifache dieser 5 Zentimeter wären dann weniger als 15 Zentimeter Meeresspiegelanstieg im 21. Jahrhundert, was in Summe dem „Weiterso“-Szenario RCP8.5 von 1900 bis zum Jahre 2100 entspricht. Es bleibt also dabei, dass sich die Medianwerte der untersuchten RCP-Szenarien für das Jahr 2100 lediglich um etwa 5 Zentimeter Meeresspiegelanstieg unterscheiden und dieses Ergebnis keinem einzigen Deichgraf an der Nordseeküste schlaflose Nächte bereiten wird.

Und wenn wir schließlich noch einmal auf den langjährigen Temperaturtrend schauen, dann müssen wir zudem feststellen, dass es in der Antarktis gar nicht wärmer, sondern immer kälter wird…

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