Neue Rückschlüsse aus 2000 Jahren Meeresspiegelgeschichte: PIK-Forscher Stefan Rahmstorf revidiert seine Meeresspiegelprognose drastisch nach unten

Klimaalarm von Joachim Müller-Jung am 23. Februar 2016 in der FAZ:

Rekordanstieg der Meerespiegel: Diese Wogen sind kaum zu glätten
So schnell ging es in den letzten 2800 Jahren nicht aufwärts. Und der Meeresspiegelanstieg ist auch mit dem Pariser Klimaabkommen nicht zu stoppen. Dazu passen schlechte Nachrichten vom Südpol.

Müller-Jung ganz in seinem Element als Überbringer schlechter Nachrichten. Er liebt es, Klimaangst zu schüren. Die Steilvorlage lieferte – wie kann es anders sein – das PIK, wie wir dem Artikel entnehmen:

„Unsere Studie ist für den Meeresspiegel so etwas wie die berühmte ‚Hockeyschläger-Kurve‘ für die globale Temperatur“, sagt etwa Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

Realisiert Rahmstorf eigentlich was er hier sagt? Es ist mittlerweile allgemein in der Fachwelt anerkannt, dass der „berühmte Hockeystick“ fachlich fehlging. Leitautor Michael Mann hat die Kurve eigenhändig in einer Folgepublikation acht Jahre später nachgebessert, womit sie endgültig aus der Welt war. Wenn Rahmstorf seine neue Meeresspiegel-Studie nun mit der Hockeystick-Kurve vegleicht, schießt er ein klassisches Eigentor. Superpeinlich. Weiter im Text von Joachim Müller-Jung:

Zusammen mit dem Team um Robert Kopp von der Rutgers University in New Brunswick/New Jersey haben sich die Potsdamer Forscher um Rahmstorf nun zunutze gemacht, dass weltweit immer mehr gut rekonstruierbare historische Pegelstände gesammelt werden. 24 Küstenorte haben sie ausgewertet, dazu 66 Pegelstandsreihen, die teilweise bis zum Jahr 1700 zurückreichen. […] Die Abkühlung, die vor gut tausend Jahren einsetzte, spiegelt sich in den Pegelanalysen ganz gut wider – von heftigen Schwankungen zum Höhepunkt der Kleinen Eiszeit abgesehen. Extrem auffälllig freilich und nahezu parallel zum Temperaturanstieg verläuft der heftige Zuwachs im Verlauf des zurückliegenden Jahrhunderts – daher wieder die Anspielung auf der Kurvenverlauf in der Form eines Hockeyschlägers. „Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wurde mehr als die Hälfte des Meeresspiegelanstiegs im 20. Jahrhundert vom Menschen verursacht – und möglicherweise sogar der gesamte Anstieg“, so die Gruppe um Rahmstorf.

Abkühlung, die vor 1000 Jahren einsetzte? Damit soll wohl das Ende der Mittelalterlichen Wärmeperiode gemeint sein. Seltsam, dass der Begriff im Artikel einfach nicht fallen will. Nicht einmal der neutralere Begriff „Mittelalterliche Klimaanomalie“ wird genannt. An dieser Stelle sollten wir nun in die Originalarbeit von Kopp et al. hineinschauen, die im März 2016 in PNAS erschien:

Temperature-driven global sea-level variability in the Common Era
We assess the relationship between temperature and global sea-level (GSL) variability over the Common Era through a statistical metaanalysis of proxy relative sea-level reconstructions and tide-gauge data. GSL rose at 0.1 ± 0.1 mm/y (2σ) over 0–700 CE. A GSL fall of 0.2 ± 0.2 mm/y over 1000–1400 CE is associated with ∼0.2 °C global mean cooling. A significant GSL acceleration began in the 19th century and yielded a 20th century rise that is extremely likely (probability P≥0.95) faster than during any of the previous 27 centuries. A semiempirical model calibrated against the GSL reconstruction indicates that, in the absence of anthropogenic climate change, it is extremely likely (P=0.95) that 20th century GSL would have risen by less than 51% of the observed 13.8±1.5 cm. The new semiempirical model largely reconciles previous differences between semiempirical 21st century GSL projections and the process model-based projections summarized in the Intergovernmental Panel on Climate Change’s Fifth Assessment Report.

Eine globale Meeresspiegelrekonstruktion auf Basis von Küstenpegeln und geologischen Proxydaten, die 2500 Jahre zurückreicht. Eine spannende Sache. Eine Graphik sagt oft mehr als 1000 Worte. Hier ein Ausschnitt aus der Meeresspiegelrekonstruktion aus der Arbeit (korrigierte Version, September 2016, oben), sowie globale Temperaturrekonstruktionen, darunter die bereits angesprochene Nicht-Hockeystick-Kurve von Mann et al. 2009, orangenfarbige Kurve unten.

 

Abbildung: Rekonstruktion des globalen Meeresspiegels (oben) und Temperatur (unten). Abbildungsauaschnitt aus Kopp et al. 2016. Jahreszahlen sind Jahre n. Chr. (positiv) bzw. v. Chr. (negativ).

 

Ein einziger Blick auf die Kurven deutet an, dass Joachim Müller-Jung hier den Elefanten im Raum unerwähnt lässt, sich einige Alarm-Rosinen herausgepickt hat und der Studie damit einen ganz anderen Spin gibt. Das Hauptergebnis ist in Wirklichkeit, dass der Meeresspiegel in der Zeit zwischen 300-1100 n.Chr. bereits einmal sehr hoch war und dann im Zuge der Abkühlung zur Kleinen Eiszeit dramatisch absackte. Die „Mittelalterliche Wärmeperiode“ (MWP) scheint also Teil einer längeren globalen Wärmephase gewesen zu sein, die den Meeresspiegel über viele Jahrhundert nach oben drückte. Was waren die (natürlichen!) Gründe hierfür? Hierüber verliert Müller-Jung kein Wort. Können die Klimamodelle diese Wärmephase im „Hindcast“ reproduzieren? Antwort des IPCC im letzten Bericht: Nein!

Es ist zudem seltsam, dass Kopp et al. 2016 die Temperaturkurve von PAGES2k (2013) nicht ausführlicher vergleichen. Dieser Temperaturverlauf sieht nämlich der Meeresspiegelkurve recht ähnlich, vielleicht zu ähnlich? Die Vorverlegung der MWP in der Meeresspiegelkurve ist interessant. Die Antwort könnte in der Antarktis liegen, denn dort ereignete sich die MWP früher als in vielen anderen Teilen der Erde, und die Temperaturen sackten wieder um 1000 n. Chr. ab. Ist es vor allem das verstärkt geschmolzene Eis der Antarktis, das den Meeresspiegelanstieg 300-1100 n. Chr. verursacht hat?

Und noch etwas fehlt im FAZ-Artikel von Joachim Müler-Jung. Die von Kopp, Rahmstorf und Kollegen in PNAS publizierten Beträge für den im 21. Jahrhundert erwarteten Meeresspiegelanstieg liegen weit unter denen, die Rahmstorf früher behauptet hat. Wäre das nicht eine tolle FAZ-Schlagzeile gewesen?

PIK-Forscher Stefan Rahmstorf revidiert Meeresspiegelprognose drastisch nach unten

Das können die FAZ und insbesondere Joachim Müller-Jung natürlich nicht machen. Es würde das falsche politische Signal setzen, die Leute verunsichern. Die New York Times hingegen hat es am 22. Februar 2017 in ihrer Berichterstattung zum Paper geschrieben:

One of the authors of the new paper, Dr. Rahmstorf, had previously published estimates suggesting the sea could rise as much as five or six feet by 2100. But with the improved calculations from the new paper, his latest upper estimate is three to four feet. That means Dr. Rahmstorf’s forecast is now more consistent with calculations issued in 2013 by the Intergovernmental Panel on Climate Change, a United Nations body that periodically reviews and summarizes climate research. That body found that continued high emissions might produce a rise in the sea of 1.7 to 3.2 feet over the 21st century.

Roger Pielke Jr twitterte daraufhin:

Climate scientist known for being wrong admits error, reduces estimate of sea level rise by 50%. IPCC was right

 

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